Wer wird wann krank?
Um noch einmal das leider berühmte Beispiel der “einen Faser” zu bemühen. Die kann zwar theoretisch zu einer Erkrankung führen – aber eben nur theoretisch. Theoretisch kann einmal passiv rauchen auch zu Krebs führen und ein Glas Bier zu Leberzirrhose.
Um diese Statistik zu begünstigen oder besser gesagt, in den Bereich der Realität zu kommen, muss man schon die Menge der Schadstoffaufnahme signifikant erhöhen. Wenn man sich sprichwörtlich die Lunge mit Giftstoffen, Staub und Fasern auffüllt (Billionen von Partikeln und Fasern), ist die Wahrscheinlichkeit, dass es einige davon schaffen, ins Gewebe einzudringen und dort Schaden anzurichten eben sehr viel größer, als wenn “die eine Faser” diesen Versuch unternimmt. Viel hilft viel.
Um eine Eizelle zu befruchten, werden hunderte Millionen von Spermien benötigt – und nur eines (oder 2) ist erfolgreich. Hätten man nur eine einzige Spermie auf den Weg geschickt, gäbe es keine Fortpflanzung und somit kein (tierisches) Leben.
Zusammenhang zwischen Asbestverbrauch und Erkrankungen
Die obere Grafik aus dem DGUV Report “Faserjahre” zeigt drei sehr wichtige Informationen:
- Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Asbestverbrauch und der Anzahl der Erkrankungen – und daraus folgender Anerkennungen als Asbest-bedingte Berufserkrankung.
- Die mittlere Latenzzeit, also die Zeitspanne zwischen der Arbeit mit Asbest und der tatsächlichen Erkrankung, beträgt rund 38 Jahre.
- Für ehemalige Asbestarbeiter*innen besteht ein konkretes Risiko, an Krebs zu erkranken, weil diese über viele Jahre sehr hohen Faserkonzentrationen ausgesetzt waren. Alle anderen Personen fallen statistisch nicht ins Gewicht.
Seit es den modernen Arbeitsschutz gibt, müssen die Unfallkassen für die berufsbedingten Erkrankungen entschädigen. Da sie noch immer mit den Fällen aus den 60ern bis 80ern zu tun haben, wollen sie sich nicht auch noch mit “Altlasten” auseinandersetzen, die sehr viel später mit Asbestexposition zu tun hatten oder noch haben, etwa in Sanierungsbetrieben. Die Unfallkassen sind Versicherungen und keine Versicherung zahlt gerne und freiwillig aus reiner Menschlichkeit und Güte. Deshalb sind die Vorschriften (und Grenzwerte) so streng, dass ein Risiko, unter “zugelassenen” Bedingungen asbestbedingt zu erkranken, praktisch null ist.
Wie es damals in der Asbestindustrie vor sich ging, sehen Sie in diesen beiden (teils historischen) Videos:
Die Dosis macht das Gift!

Die Bedienerin Clémence Gagnon beobachtet eine Maschine, die Asbestfasern kardiert, Fabrik Johns Manville, Asbestos, Que., 1944 © by BiblioArchives / LibraryArchives – licensed under CC BY 2.0
Wer sein Arbeitsleben lang in der Asbestzementindustrie gearbeitet hat, in der es vor 60 Jahren praktisch keinen Arbeitsschutz gab, hat sich sprichwörtlich die Lunge mit Faserstaub aufgefüllt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies Schaden anrichtet ist also sehr viel größer. Aber selbst das ist keineswegs ein Todesurteil. Statistische Wahrscheinlichkeiten sind nie Null oder 100%, sondern immer irgendwo dazwischen!
Menschen, die an Asbestose oder Lungenkrebs oder Mesotheliom erkranken haben meist ein ganzes Berufsleben der Asbestexposition hinter sich: Sie haben über viele Jahre täglich sehr hohe Konzentrationen (> 1 Million Fasern pro Kubikmeter Luft) eingeatmet. Bei einer kurzzeitigen, einmaligen Exposition ist die Wahrscheinlichkeit zu erkranken extrem gering.
Die Unfallkassen führen schon seit vielen Jahren Statistiken zum Zusammenhang zwischen Asbestverarbeitung, Erkrankungen und ihren eigenen Kassenleistungen. Diese Statistiken sind übrigens öffentlich bei der DGUV verfügbar und in der DGUV Publikation “Faserjahre” beschrieben.
Berücksichtigen Sie aber auch, dass eine einmalige hohe Exposition nicht vergleichbar ist mit einer gleichmäßigen sehr niedrigen Exposition über viele Jahre, auch wenn in der Summe die Faserbelastung gleich ist. Wenn Sie eine Flasche Schnaps in einem Zug leer trinken, kann Sie das töten. Wenn Sie einmal pro Woche nach dem Essen ein kleines “Verdauerle” zu sich nehmen, gilt dies sogar bisweilen als gesund. Der Körper kann dann damit umgehen.
- Hohe Faserbelastung regelmäßig über viele Jahre: hohes Risiko
- Geringe Faserbelastung regelmäßig über viele Jahre: mittleres Risiko
- Hohe Faserbelastung bei einmaliger oder seltener Exposition: geringes Risiko
- Niedrige Faserbealastung bei einmaliger oder seltener Exposition: vernachlässigbares Risiko
Die Begriffe “hoch”, “mittel,”, “gering” oder “vernachlässigbar” lassen sich aber leider nicht genau beziffern, da sehr viele Faktoren neben der Asbestexposition eine Rolle spielen.
Werde ich krank?
Vorsicht ist geboten – kein Zweifel. Aber Panik ist auch nicht angezeigt: Asbestfasern kommen in der Natur und auch in unserer Atemluft vor. Nicht viele, aber sie sind da, im Schnitt rund 100 – 200 Fasern / m3 Luft. Sie stammen aus den Gesteinen der Erdkruste, aus alten Bremsbelägen, aus alten Baustoffen, etc. Genau wie tausende andere Schadstoffe, denen wir täglich ausgesetzt sind.
In hunderten von Artikeln zum Thema ist immer wieder die Rede davon, dass “die eine Faser” genügt, um Krebs auszulösen. Das ist auch das Problem: Es gibt eben den kausalen Zusammenhang zwischen Asbest und Krebs, aber keine Grenze, ab wann das passiert. Man kann theoretisch Milliarden von Fasern, die man eingeatmet hat unbeschadet überstehen, aber gleichzeitig auch an nur einer Faser erkranken. Die Aussage ist zwar richtig, aber die Darstellung ist nicht wirklich realistisch: Theoretisch kann das passieren, es ist aber so wahrscheinlich wie 10 mal 6 Richtige im Lotto hintereinander. Deshalb gibt es auch keine Grenzwerte, nur bestmöglichen Schutz, um das Risiko so gering wie möglich zu halten.
Angst vor Asbest
Wenn Sie sich 5 Minuten in einem Raum aufhalten, in dem ein altes Radio steht, in dem vielleicht (!) eine Asbestpappe eingebaut sein könnte (Beispiel nicht erfundenen), werden Sie nicht vom Asbest krank. Das ist praktisch ausgeschlossen! In diesem Fall werden Sie eher von der Angst vor Asbest krank. Die Angst ist also schädlicher als das Material. Das Internet ist dabei sehr “hilfreich”, diese Angst zu verstärken! In vielen Fällen sitzt leider die Angst so tief, dass sachliche Argumente nicht mehr helfen.
Folgende Faktoren begünstigen die Entstehung und Festigung dieser Angst:
Faktor Vorschriften
Die Rechtsvorschriften und Grenzwerte sind sehr streng, deshalb gehen wir irrtümlich automatisch davon aus:
- Es gibt einen Grund für die strengen Rechtsvorschriften und Grenzwerte und
- dieser Grund ist, dass wir krank werden, wenn diese Grenzwerte überschritten werden.
Dies ist aber ein Trugschluss und schlicht falsch! Die Rechtsvorschriften und Grenzwerte sind dafür da, damit sich das Verhalten der Arbeitgeber gegenüber ihren Arbeitnehmern wie in den Blütezeiten von Asbest nicht wiederholt und die Arbeitgeber dazu gezwungen sind, durch Maßnahmen frühzeitig asbestbedingte Risiken zu beseitigen, etwa durch Sanierung.
Risikofaktor Internet
Das Dilemma ist dabei das berühmte Kopfkino und zu viele leider unseriöse Informationen im Internet. Wir wollen immer 100% Sicherheit – aber die gibt es nicht. Man nennt das auch “normales Lebensrisiko”.
Auf der Suche nach möglichst umfassenden und sachlichen Informationen scheint das Internet der “geeignete” Ort zu sein. Sicher ist Ihnen aber aufgefallen, dass die Unsicherheit und Verwirrung mit der Zahl der Informationen eher zunimmt. Man ist mit der Fülle an Informationen schlicht überfordert und kann kaum noch beurteilen, was nun plausibel ist und was nicht. Was nun kommt, ist der psychologische Effekt, dass man aus der Flut der Informationen im Internet selektiv sucht und die Informationen herauspickt, die in das bereits selbst entwickelte Horroreszenario passen. So wird die eigene Story plausibel, egal wie absurd die Informationen sachlich betrachtet sind. Man sitzt seiner eigenen Verschwörungstheorie auf, weil man davon abweichende Argumente gar nicht mehr zulässt, nicht mehr erklären kann oder sogar will. Ein Teufelskreis, aus dem man nur sehr schwer wiederherauskommt.
Bedenken Sie bei der Internetrecherche bitte folgendes:
- Welches Interesse verfolgen die Anbieter von Informationen? Geht es ihnen um Aufklärung oder um Geld?
- Bei Angst vor Asbest: Ist die Angst vor Asbest begründet? Gibt es einen oder mehrere konkrete Anhaltspunkte? Gab es wirklich eine Asbestexposition oder ist es “nur” Angst vor Asbest und die Angst, daran zu erkranken?
- Lassen Sie sich nicht von Halbwahrheiten (“Die eine Faser…”) und unzureichend erklärten Statistiken in die Irre führen. Gerne verwendet wird z.B. die Statistik: “Asbest ist die zweithäufigste Ursache für Lungenkrebs (nach dem Rauchen).” Das ist zwar richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Was nicht genannt wird: Um welche Personengruppe geht es – alle oder nur die Betroffenen? Wie hoch ist die tatsächliche Zahl der Fälle und handelt es sich noch um die Personen, die in den 60ern bis 80ern in der Asbestindustrie gearbeitet haben? Genau um die geht es nämlich!
Was tun bei Angst vor Asbest
- Wenn Sie Angst vor Asbest haben, ohne eine konkrete Exposition oder konkrete Anhaltspunkte, dass sie Asbestfasern ausgesetzt sein könnten oder waren,
- wenn diese (bisher unbegründete) Angst sie nicht mehr loslässt und Sie deshalb nicht mehr ruhig schlafen,
- wenn selbst sachliche Argumente nicht in der Lage sind, die Angstspirale zu durchbrechen,
dann handelt es sich vermutlich um eine ernstzunehmende Angststörung, die sie alleine nicht mehr bewältigen können. Schämen Sie sich in solchen Fällen nicht, einen Psychologen aufzusuchen. Seriöse Sachverständige für Asbest und Bauschadstoffe können Ihnen nur helfen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Asbestexposition – oder besser: Daten – dazu vorliegen.
Wer kann mich beraten?
Asbest ist gefährlich. Und man sollte die Gefahr ernst nehmen. Panik ist hingegen nicht angezeigt und kontraproduktiv.
Falls Sie sich Sorgen machen, weil Sie Kontakt mit Asbest oder einem Asbestprodukt hatten, machen Sie sich zunächst mal keine Sorgen:
Sprechen Sie mit Ihrem Hausarzt (Ihrer Ärztin) und im Zweifel mit einem Lungenfacharzt (oder Ärztin). Er / sie wird Sie beraten und besprechen, welche Maßnahmen sinnvoll sind und ggf. welche Analytik.
Tun Sie dies aber nicht erst, wenn Sie Probleme bekommen: Falls Sie früher hohen Konzentrationen von Asbest ausgesetzt waren (z. B. beruflich) klären Sie das Risiko rechtzeitig ab.
Fazit: Keine Panik!
Wenn Sie nicht viele Jahre lang in einer Asbestfabrik gearbeitet haben, ist die Wahrscheinlichkeit, an Krebs infolge Asbestexposition zu erkranken oder gar zu sterben, sehr (sehr) gering!